Kamishibai ist mehr als Vorlesen mit Bildkarten

„Kamishibai? Klar – kenn ich! Das ist doch ein Bilderbuch im Rahmen!“

Eins vorweg: Ich finde es toll, wenn alle Kinder die Illustrationen eines Bilderbuchs sehen können und sich nicht um die Vorlesende oder den Vorlesenden herumknubbeln müssen. Dafür sind die auf andere Weise – nämlich auch Karten – gedruckten Bilderbücher, die es mittlerweile in vielen Kitas gibt, eine feine Sache. Mit Kamishibai allerdings haben diese Bildkarten kaum etwas zu tun.

Wo liegt der Unterschied – und warum ist das meiner Ansicht nach entscheidend?

„Ma“ – Raum für eigenes Empfinden und Denken

Kamishibai-Erzählkunst basiert auf zwei Säulen. Eine davon ist „Ma“. Es „strahlt nach“, wenn die Geschichte beendet ist. Ohne „Ma“ würde das Kamishibai seine besondere Faszination und Ausdruckskraft verlieren. „Ma“ ist der Raum, die Stille und die Pause zwischen den Bildtafeln, die bewusst in die Erzählung eingebaut werden. Es ist nicht nur die Leere zwischen den Bildern, sondern vielmehr eine künstlerische Gestaltung, die die Vorstellungskraft des Publikums aktiv einbezieht.

Während der Kamishibaiya (also derjenige oder diejenige, die die Erzählung übernimmt) die Bildtafeln wechselt, entsteht durch das „Ma“ eine einzigartige Dynamik. Die kleinen und großen Zuschauer* haben Zeit, das gerade gezeigte Bild zu betrachten, die vorherige Szene zu reflektieren und sich auf das Kommende vorzubereiten. Diese Momente der Stille ermöglichen es, die Geschichte aktiv mitzugestalten, eigene Gedanken und Emotionen einzubringen und eine tiefere Verbindung zur Handlung herzustellen. Das „Ma“ eröffnet Raum für die Vorstellungskraft und ermöglicht es, zwischen den Bildern eine ganz eigene Geschichte zu spinnen. Es ist die Poesie des leeren Raums, die das Kamishibai so einzigartig macht und die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lässt.

„Kyokan“ – ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl

Die zweite Säule des Kamihsibai ist „Kyokan“. Es beschreibt die Fähigkeit des Kamishibaiya, die Emotionen und Reaktionen des Publikums wahrzunehmen und darauf einzugehen. Der Kamishibaiya ist nicht nur ein Erzähler, sondern auch ein Geschichtenerzähler, der die Stimmung des Publikums sensibel wahrnimmt und die Erzählung entsprechend lenkt.

Die Kunst des „Kyokan“ erfordert Erfahrung, Einfühlungsvermögen und eine tiefe Verbindung zum Publikum. Der Kamishibaiya kann durch seine Stimme, Gestik und Mimik die Spannung erhöhen, lustige Momente betonen oder traurige Szenen einfühlsam darstellen. Das „Kyokan“ schafft eine Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörern, die die Geschichte lebendig werden lässt. Es ist ein Dialog der Emotionen, bei dem das Publikum aktiv in die Handlung einbezogen wird und eine persönliche Verbindung zu den Charakteren und Ereignissen herstellt. „Kyokan“ beschreibt ein Gefühl der Freude darüber, die Geschichte und alles, was darüber hinaus passiert, gemeinsam mit anderen zu erleben.

Kamishibai regt die Phantasie an und erzeugt „Kyokan“ – Gemeinschaftsgefühl

Kamishibai-Illustrationen wecken Emotionen

Die Zeichnungen eines Kamishibai-Bildkartensatzes sind detailarm, aber ausdrucksstark: Gute Kamishibai-Illustrationen zeichnen sich durch eine hohe emotionale Qualität aus. Sie einzigartig durch ihre handwerkliche Gestaltung, ihre Fähigkeit, eine Geschichte effektiv zu unterstützen, und – vor allem in den originalen japanischen Geschichten – ihre kulturelle Verbundenheit. Sie fesseln die Zuschauer, erwecken Geschichten zum Leben und tragen zur besonderen Magie des Erzählerlebnisses bei.

Kamishibai-Illustrationen werden oft von Hand gezeichnet, das verleiht ihnen einen sehr authentischen Charakter. Die handwerkliche Gestaltung zeigt die Persönlichkeit des Illustrators und vermittelt eine warme, menschliche Note, die in der digitalen Welt selten zu finden ist. Die Bilder sind außerdem einfach und klar gestaltet, um die Geschichte leicht verständlich zu machen. Durch klare Linien, minimale Details und fokussierte Darstellungen unterstützen sie die Erzählung und ermöglichen es den Zuschauern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Die Farbgebung ist lebendig: damit wird ganz gezielt Aufmerksamkeit erregt und es werden Emotionen vermittelt. Die Farbpalette kann je nach Geschichte und Stimmung variieren und trägt dazu bei, eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Gleichzeitig sind die Illustrationen eines Kamishibai echte „Eyecatcher“. Sie sind darauf ausgelegt, die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Die Größe der Bilder und die Platzierung der Details werden sorgfältig gewählt, um den Blickfang zu maximieren – die Blicke im wahrsten Sinne des Wortes auf sich zu ziehen – und das Interesse der Zuschauer zu wecken.

Und obwohl Kamishibai-Illustrationen oft einfach und stilisiert sind, vermitteln sie starke Emotionen. Die Kombination von Bildern und Text ermöglicht es, Gefühle und Stimmungen subtil auszudrücken und die Zuschauer auf einer emotionalen Ebene anzusprechen.

Was zeigt denn nun das nächste Bild?

Momente der Ruhe und Konzentration

Kamishibai schafft eine ruhige und einladende Atmosphäre, die es angespannten und herausgeforderten Kindern ermöglicht, sich zu beruhigen und sich auf die Geschichten zu fokussieren. Sich ganz auf die Erzählung einzulassen. Die Kombination aus visueller Anziehungskraft, rhythmischer Erzählweise, „Ma“, begrenzten visuellen Reizen und Interaktion trägt dazu bei, dass Kamishibai zu einem magischen und besonderen Moment, in dem Kinder sich entspannen und in die Welt der Geschichten eintauchen können.

Die Illustrationen sind farbenfroh, fesselnd und ziehen visuell in ihren Bann. Kinder werden magisch von ihnen angezogen. Die bunten und klaren Illustrationen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und helfen unruhigen Kindern, sich auf die Geschichte zu konzentrieren. Kamishibai wird traditionell in einer rhythmischen und melodischen Art und Weise erzählt. Die Geschichten folgen einem vordefinierten Ablauf, bei dem der Erzählende die Bildtafeln nacheinander wechselt und die Erzählung begleitet. Dieser Rhythmus wirkt beruhigend und einladend für Kinder, weil sie eine klare Struktur und Vorhersehbarkeit wahrnehmen.

Das „Ma“ oder der Raum zwischen den Bildtafeln ist ein zentraler Aspekt des Kamishibai. Während der Kamishibaiya die Bildtafeln wechselt, gibt es kurze Momente der Stille und des Innehaltens. Diese Pausen erlauben es den Kindern, das gerade Gezeigte zu verarbeiten und sich auf das Kommende vorzubereiten. Diese Zeiträume der Ruhe und des „Ma“ haben eine beruhigende Wirkung und ermöglichen es den Kindern, sich zu fokussieren.

Die visuellen Reize einer Kamishibai-Erzählung sind wohldosiert: Im Gegensatz zu Smartphone, Tablet, Laptop und Fernseher gibt Kamishibai eine begrenzte Anzahl von visuellen Reizen pro Bildtafel vor. Dadurch werden Kinder nicht von einem Überfluss an visuellen Informationen überwältigt, was es ihnen leichter macht, sich auf die aktuelle Szene zu konzentrieren und die Geschichte in ihrer Gesamtheit zu erfassen.

Außerdem ist Kamishibai eine interaktive Erzählkunst, bei der der Kamishibaiya nicht nur erzählt, sondern auch mit dem Publikum in Kontakt tritt. Der Kamishibaiya kann Fragen stellen, die Kinder einbeziehen und zum Mitmachen ermutigen. Diese Interaktion fördert das Zuhören und die Konzentration. Die Handlung der Geschichte ist einfach und klar: Der Fokus auf das Wesentliche hilft dabei, der Handlung zu folgen und sich nicht zu verlieren. Durch den emotionalen Ausdruck können sich die Kinder in die Geschichte einzufühlen und zur Ruhe finden.

Zur Ruhe kommen im hektischen Kita- und Schulalltag mit Kamishibai

Last but not least: Kamishibai funktioniert vollkommen anders als ein Bilderbuch!

Kamishibai lebt von der fortlaufenden Bewegung des Kartenziehens, gleicht eher einem Kurzfilm und folgt eigenen Gestaltungsregeln des Bildaufbaus, denn das Bild wird nach und nach von rechts nach links freigegeben. Jede Bildtafel zeigt eine vollständige Szene der Geschichte und wird nacheinander dem Publikum gezeigt. Im Gegensatz dazu sind Illustrationen in Bilderbüchern auf den Seiten des Buches zusammenhängend gedruckt.

Die Kamishibai-Erzählkarten haben in der Regel außerdem ein größeres Format als die Illustrationen in Bilderbüchern. Dies liegt daran, dass sie für eine Vorführung vor einem Publikum auch von weiter weg sichtbar sein müssen. Die größeren Bilder tragen dazu bei, die visuelle Wirkung zu verstärken. Außerdem müssen die Bilder in den speziellen Rahmen des Kamishibai-Butai passen, sie müssen Rahmenabmessungen entsprechen. Neben der Emotionalität, die den Bildern zugrunde liegt, konzentrieren sie sich oft auf die Schlüsselszenen der Geschichte, die für den Fortgang der Handlung von besonderer Bedeutung sind. Dadurch wird der Erzählfluss gestärkt und die Zuschauer können sich auf die wichtigsten Aspekte der Geschichte konzentrieren.

Dass die Bildkarten von rechts nach links aus dem Rahmen herausgezogen werden, hat einen erheblichen Einfluss auf die Bildgestaltung und -komposition. Das baut Spannung auf, betont Übergänge und unterstützt die Erzählung, während es gleichzeitig den Fokus auf das aktuelle Bild lenkt. Die Bewegung von rechts nach links erreicht ihren Höhepunkt, wenn die letzte Bildkarte herausgezogen wurde und das Abschlussbild vollständig sichtbar ist. Dieses Bild markiert den Höhepunkt oder die Auflösung der Geschichte. Wenn der Kamishibaiya das Abschlussbild zur Seite legt und der leere Rahmen sichtbar wird, signalisiert dies das Ende der Erzählung und eine Rückkehr zur Ruhe und dem „Ma“. Diese einzigartige Bildbewegung trägt zur Faszination und der besonderen Wirkung von Kamishibai bei.

Wenn euch die Kunst des Kamishibai auch interessiert und fasziniert und ihr euch weiter einlesen möchtet: Die Inhalte des Beitrags basieren auf den Veröffentlichungen von Guylène Colpron und Mechthild Dörfler, die mit ihrem umfangreichen Fachwissen maßgeblich dazu beitragen, dass Kamishibai in seiner ursprünglichen Form auch im deutschsprachigen Raum bekannter wird.

 

|Autorin: Daniela Demmer|

* ich wähle bewusst keine gegenderte Form im Fließtext und verwende der besseren Lesbarkeit halber das generische Maskulinum. Selbstverständlich spreche ich mit jedem Wort Menschen aller Geschlechter an.

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